Dienstag, 2. März 2010
Winshluss - Pinocchio [avant-verlag] Strauchelnde Holzfiguren und ihre Väter.
Pinocchio - ein Comic wie eine Kneipenkeilerei, schamlos, bösartig, frei von Regeln und Beschränkungen. Von der literarischen Vorlage blieben nur Bruchstücke erhalten und selbst diese werden mit großem Genuss überzeichnet und entstellt. Winshluss Adaption ist eine Reise ans Ende einer Regennacht, ein rasanter Abstieg in die unteren Höllenkreise, gute Feen sucht man man hier vergebens, man findet höchstens ein paar überpotente Zwerge und selbst ihnen möchte man nicht wirklich begegnen.
Der altbekannte italienische Kinderbuchklassiker wird einer Überarbeitung unterworfen, welche man nur noch als bitterböse Satire mit hämischer Symphatie für's Zynische bezeichnen kann, keiner der Beteiligten bleibt heil.
Meister Geppetto ist kein großherziger, ältlicher Gutmensch mehr, sondern ein geldgieriger, hochgradig amoralischer Waffenentwickler, der seinen hölzernen Kriegsautomaten gerne schnellstmöglichst und gewinnbringend an den nächsten General verschachern möchte.
Winshluss, der in Deutschland durch seine Adaptionsleistung von Marjane Satrapis Comic "Persepolis" zu Bekanntheit kam, der eine elegante, subtile und formvollendeten Trickfilmumsetzung schuf, ist in diesem Falle kein Freund der leisen Töne. Der Comic ist schrill, grausam, stellenweise abstossend und visuell so stark am oszillieren zwischen verschiedenen Vorbildern und Schulen, dass es mir schwer fällt ihn zu fassen, ohne ihn zu verstümmeln.
Die Zeichnungen bewegen sich zwischen Spiegelman und Crumb, parodieren hier und da sehr bösartig den Strich der bekannten Disneyadaption und bestechen durch ihren unberechenbaren Wandel in Bild- und Seitengestaltung. Dieser Sachverhalt kommt in der nahezu luxuriöse Aufmachung des großformatigen Comics sehr gut zur Geltung, mit den Massen 29 x 21,4 cm wirkt er ohnehin eher wie ein antiker Foliant.
Das Titelbild wiederum ist auch eine grandiose Hinterhältigkeit, denn die opulente, nostalgische Codes aufrufende Covergestaltung täuscht, die Harmlosigkeit entweicht dem Comic bereits nach wenigen Seiten, wenn Pinocchio, in seiner kindlichen Naivität zum Sexspielzeug missbraucht, einen unbeabsichtigten Mord begeht.
Und nun beginnt der Reigen, welcher hinab führt in die Dunkel des 21. Jahrhunderts, welcher flankiert wird von ökologischen Irrsinnsstaten, Kinderarbeit und -ausbeutung, sexueller Gewalt und noch unzerbrochenen Träumen.
In dieser modernen Variante des Märchens ist der Automat, der so gerne lebendig wäre, ein Verstossener, ein Herumirrender und dieser Suchende wird im Gegensatz zur pädagogisch argumentierenden Vorlage ihres ursprünglichen Autors Carlo Collodi nicht von helfenden Feen unterstützt, welche ihn zurückführen auf den rechten Weg, sondern ist völlig auf sich alleine gestellt, ein Strassenjunge aus Holz eben.
Als er später auf Kerzendocht trifft, bilden diese beiden ungleichen Figuren ein Duo, welches sich - ganz vorlagenkonform - aufmacht, um das Spielland (hier die Zauberinsel) zu suchen.
Kerzendocht ist jedoch kein idealtypisch gesetzter Tunichtgut, sondern ein Opfer seines Schicksals. Seine abwärtsgerichtete Spirale, welche mit seinem gewalttätigem Vater begann, es folgten das Ausreissen, der Jugendarrest, in welchem er von Mitgefangenen malträtiert und misshandelt wurde, erneute Flucht, Hunger, Entbehrung und die Notwehrtötung eines Sexualtäters, all dies schildert er dem Puppenjunge in einer Nacht, in 32 Bildern auf dreieinhalb Seiten - ganz ohne Worte.
Denn dies ist die unbestreitbare Finesse des Comics, er kommt - sieht man von den collagierten Einschüben einer Nebenhandlung rund um Jiminy Cricket ab - vollkommen ohne Worte aus. Dies macht ihn möglicherweise auch so beispiellos brutal, hier dient die Schriftlichkeit nicht als distanzierendes Element, alles ist unmittelbar, direkt und selbst angeschnittene Themenfelder, wie Kerzendochts Fastvergewaltigung verstören. Ebenso gnadenlos werden die Träume der beiden enttäuscht, Spielland ist ein herunter gekommener Ort, voller hungernder Kinder, ohne Perspektive und Zuversicht. Dass ein solcher Zustand der Nährboden für Radikalismus ist, muss nicht mehr dargelegt werden.
Aber eben hier gelingt Winshluss ein thematischer Kniff, welcher bislang in den Besprechungen, welche ich kenne unerwähnt blieb. Der Autor der literarischen Vorlage war Italiener, daher ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass der Tribun, welcher im Zirkus die Kinder becirct, Züge einer prominenten historischen Figur trägt, seine Gestik verdächtig vertraut erscheint und sein Ziel altbekannt ist. [Anklicken zwecks Vergrößerung]
Anders als in der Vorlage werden die Kinder nicht in Esel verwandelt, sondern vielmehr in aufgehetzte Werwölfe, welche waffenstarrend die nächste Festung schleifen. Einzig der Holzkopf bleibt immun und so widerfährt ihm ein Schicksal, von welchem auch das Buch berichtet, er wird an einen Baum gebunden, hier jedoch wird er aufgeknüpft, da er nutzlos war für die Armee der Wölfe.
Ich glaube es wird sichtbar, dass diese sehr freie Adaption des Kinderbuchklassikers einige unerwartete Saiten zum Klingen bringt und überraschend bösartig aus ihrer wohlfeilen Verpackung herausschmullt. An dunklen Tagen ist der finstere, unverschnitten bösartige Humor eine Wohltat, an anderen ein weckender Hieb in die Magengrube ... einmal mehr aber eine gelungene Adaption, wenn auch deutlich weniger subtil.
Welche weiteren Abenteuer Pinocchio bestehen muss, ob er seinen Schöpfer wieder treffen wird und ob aus ihm tatsächlich ein richtiger Junge wird, dass kann/will/werde ich euch nicht verraten, schliesslich wartet dieses Buch darauf von euch gelesen zu werden. Also, ich bin begeistert. Cheerz!
Winshluss Pinocchio ist als 187seitiges HC für 29,95 Euro in beiden Läden zu erhalten.
Das Titelbild wiederum ist auch eine grandiose Hinterhältigkeit, denn die opulente, nostalgische Codes aufrufende Covergestaltung täuscht, die Harmlosigkeit entweicht dem Comic bereits nach wenigen Seiten, wenn Pinocchio, in seiner kindlichen Naivität zum Sexspielzeug missbraucht, einen unbeabsichtigten Mord begeht.
Und nun beginnt der Reigen, welcher hinab führt in die Dunkel des 21. Jahrhunderts, welcher flankiert wird von ökologischen Irrsinnsstaten, Kinderarbeit und -ausbeutung, sexueller Gewalt und noch unzerbrochenen Träumen.
In dieser modernen Variante des Märchens ist der Automat, der so gerne lebendig wäre, ein Verstossener, ein Herumirrender und dieser Suchende wird im Gegensatz zur pädagogisch argumentierenden Vorlage ihres ursprünglichen Autors Carlo Collodi nicht von helfenden Feen unterstützt, welche ihn zurückführen auf den rechten Weg, sondern ist völlig auf sich alleine gestellt, ein Strassenjunge aus Holz eben.
Als er später auf Kerzendocht trifft, bilden diese beiden ungleichen Figuren ein Duo, welches sich - ganz vorlagenkonform - aufmacht, um das Spielland (hier die Zauberinsel) zu suchen.
Kerzendocht ist jedoch kein idealtypisch gesetzter Tunichtgut, sondern ein Opfer seines Schicksals. Seine abwärtsgerichtete Spirale, welche mit seinem gewalttätigem Vater begann, es folgten das Ausreissen, der Jugendarrest, in welchem er von Mitgefangenen malträtiert und misshandelt wurde, erneute Flucht, Hunger, Entbehrung und die Notwehrtötung eines Sexualtäters, all dies schildert er dem Puppenjunge in einer Nacht, in 32 Bildern auf dreieinhalb Seiten - ganz ohne Worte.
Denn dies ist die unbestreitbare Finesse des Comics, er kommt - sieht man von den collagierten Einschüben einer Nebenhandlung rund um Jiminy Cricket ab - vollkommen ohne Worte aus. Dies macht ihn möglicherweise auch so beispiellos brutal, hier dient die Schriftlichkeit nicht als distanzierendes Element, alles ist unmittelbar, direkt und selbst angeschnittene Themenfelder, wie Kerzendochts Fastvergewaltigung verstören. Ebenso gnadenlos werden die Träume der beiden enttäuscht, Spielland ist ein herunter gekommener Ort, voller hungernder Kinder, ohne Perspektive und Zuversicht. Dass ein solcher Zustand der Nährboden für Radikalismus ist, muss nicht mehr dargelegt werden.
Aber eben hier gelingt Winshluss ein thematischer Kniff, welcher bislang in den Besprechungen, welche ich kenne unerwähnt blieb. Der Autor der literarischen Vorlage war Italiener, daher ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass der Tribun, welcher im Zirkus die Kinder becirct, Züge einer prominenten historischen Figur trägt, seine Gestik verdächtig vertraut erscheint und sein Ziel altbekannt ist. [Anklicken zwecks Vergrößerung]
Anders als in der Vorlage werden die Kinder nicht in Esel verwandelt, sondern vielmehr in aufgehetzte Werwölfe, welche waffenstarrend die nächste Festung schleifen. Einzig der Holzkopf bleibt immun und so widerfährt ihm ein Schicksal, von welchem auch das Buch berichtet, er wird an einen Baum gebunden, hier jedoch wird er aufgeknüpft, da er nutzlos war für die Armee der Wölfe.
Ich glaube es wird sichtbar, dass diese sehr freie Adaption des Kinderbuchklassikers einige unerwartete Saiten zum Klingen bringt und überraschend bösartig aus ihrer wohlfeilen Verpackung herausschmullt. An dunklen Tagen ist der finstere, unverschnitten bösartige Humor eine Wohltat, an anderen ein weckender Hieb in die Magengrube ... einmal mehr aber eine gelungene Adaption, wenn auch deutlich weniger subtil.
Welche weiteren Abenteuer Pinocchio bestehen muss, ob er seinen Schöpfer wieder treffen wird und ob aus ihm tatsächlich ein richtiger Junge wird, dass kann/will/werde ich euch nicht verraten, schliesslich wartet dieses Buch darauf von euch gelesen zu werden. Also, ich bin begeistert. Cheerz!
Winshluss Pinocchio ist als 187seitiges HC für 29,95 Euro in beiden Läden zu erhalten.
Der Countdown zur Leipziger Buchmesse: –16 Tage
Ab jetzt täglich bis zum Beginn der Leipziger Buchmesse:
- lustige, passende Videos
- ein paar tolle Dinge, die wir am Stand dabeihaben werden
- oder vielleicht noch Überraschungen!
HEUTE ein Video:
Darauf freuen wir uns am meisten: auf EUCH!
Video-Reminiszenz 1: »LBM 2009 - Rundumblick^^«
- lustige, passende Videos
- ein paar tolle Dinge, die wir am Stand dabeihaben werden
- oder vielleicht noch Überraschungen!
HEUTE ein Video:
Video-Reminiszenz 1: »LBM 2009 - Rundumblick^^«
Grober Unfug auf der Leipziger Buchmesse 2010:
Halle 2, Stand H317