Drei Erzählungen, drei Autorenmotivationen, drei völlig unterschiedliche
Perspektiven - ausgebreitet auf insgesamt knapp 640 Seiten. Ich will euch drei Titel vorstellen, die den hochkomplexen Gegenstand der israelischen
Gegenwart in den Mittelpunkt stellen. Es handelt sich hierbei um die folgenden Comics:
Sarah Glidden: Israel verstehen in 60 Tagen oder wenigerGuy Delisle: Aufzeichnungen aus JerusalemMaximilian Le Roy: Die Mauer
Israel im Comic (1v3)
Der erste Comic, den ich bei diesem Triple untersuchen möchte, trägt den etwas arg auf Trigger gebürsteten Titel "Israel verstehen. In 60 Tagen oder weniger".
Trigger? Ja, denn es stellt sich die Frage - kann die Geschichte eines
jeden beliebigen Landes tatsächlich in 60 Tagen - also in einer knappen
Sommerferienlänge - verstanden werden?
Mit der Autorin Sarah Glidden reist eine junge, studierte, sich
politisch eher als links stehend wahrnehmende Frau nach Israel. Was sie
zu dieser Reise motiviert ist schnell erzählt. Ihr Freund hat arabische
Wurzeln und nimmt in den Debatten um die umstrittene israelische Politik
häufig eine konträre Position zu ihren Ansichten ein.
Sie selbst ist eine nichtpraktizierende, säkulare Jüdin, die sich durch
die Lektüre zahlreicher Autoren, welche die Siedlungs- und
Besatzungspolitik scharf angreifen, ein ausführliches theoretisches (und
nach ihrer Auffassung kritisches) Bild zu Israel gemacht hat. Sie
möchte aber diesem Bücherwissen eine lebensweltliche Dimension
hinzufügen.
Hier bietet sich der Service des "Birthrights Movement" an. Hinter
diesem (politisch etwas aufgeladenen) Begriff versteht man ein
kostenloses Reiseprogramm nach Israel, welches durch die israelische
Regierung und solvente us-amerikanische Sponsoren finanziert wird.
Hierbei werden junge Menschen eingeladen, das Land, welches sich als
Heimstatt aller Juden versteht, zu bereisen. Es gilt auch als eine
Reaktion auf die Shoah und begreift sich selbst als Zeichen eines
unabhängigen, stolzen jüdischen Gemeinwesens. Klingt eigentlich
hinreissend. Reisen, Tradition selbst erleben - Geschichte verstehen ...
... doch ganz so bonbonfarbenenbunt und simpel ist die Welt, eben selbst
in diesem Comic nicht. Geschichtsschreibung bedeutet immer auch eine
Verortung des Schreibenden, ist gebunden an einen Standpukt, wurzelt in
der strategischen Überlegung, welche Art des historischen Narrativs
traditiert werden soll.
Und so ist auch diese Busreise durch das "heilige Land" nicht frei von
Ausschliessungen. Glidden hält (fast beiläufig) fest, dass sie während
ihrer gesamten Busreise durch Israel niemals auf Palästinenser oder
arabische (oder schwarze) Israelis traf - der Vorwurf einer kritiklosen
Schaukastentour liegt in der Luft.
Man reist zu Marksteinen des neuen israelischen Staatsverständnisses, zu
Orten der mythischen Verklärung, aber niemals in die besetzten Gebiete -
diese bleiben, sich dem Blick der Autorin entziehend, hinter der
monumentalen Mauer verborgen, welche die beiden Völker dieses Landes
voneinander abschottet.
Kritische Fragen werden von den Reiseleitern selten beantwortet, die
Kontakte mit den Einheimischen beschränken sich auf ein Minimum. Der
Aufenthalt besitzt etwas entrücktes, nahezu absurdes. Man besucht die
Kulisse eines Landes und jeder Einwohner scheint seine Rolle beherzt
(überzu)erfüllen.
Gliddens Reise ist die Reise durch ein segmentiertes Land, entlang einer
betonierten Linie, die man nicht überschreitet - zumindest nicht bei
dieser Busreise. Ihr Blick endet (erzwungenerweise) dort, wo der
tatsächliche Verstehensprozess beginnen würde.
Die Rundreise, welche sie unternimmt, zeigt nur eine Seite des
israelisch-palästinensischen Konfliktes und ist somit fraglos
minderkomplex, hinzu kommt dass die Reisedauer von 60 Tage ein sehr
beengtes Zeitfenster darstellt, welches einer vollständigeren Analyse
ebenfalls nicht dienlich ist.
Glidden hat trotz dieser Einschränkungen einen hervorragenden,
detailreichen und glaubwürdigen Comic über ihre Reiseerfahrungen
verfasst, in dem sie sich als hellwache Chronistin des (reduzierten)
israelischen Alltags erweist.
Denn trotz aller Virtualität dieser Reise durch ein Landes, dass seine
Mitbevölkerung ausblendet, gelingt es ihr - gerade in der Abwesenheit
der Anderen - die Verwerfungslinien dieses Landes sichtbar zu machen.
Somit gelingt es ihr auch die Abwesenden aufzufinden.
Sie löst sich auch, in den niemals anmaßenden oder gar belehrenden
Schilderungen ihrer Erlebnisse, von ihren bisherigen theorielastigen
Überzeugungen. Und zeigt auf, dass ein reines Buchwissen, niemals
ausreichen kann um komplexe, lebendige Geschichten zu verstehen. Diese
können nur erzählt werden, wieder und wieder.
Und eben dieser facettenreiche Reifeprozess wird durch ihre offenherzig
ausgestellte Unsicherheit zu etwas besonderem. Meine einzige Kritik an
dem Comic ist, dass der Titel verheerend irreführend ist - ein einziges
Satzzeichen - ein Fragezeichen am Ende des Titels - hätte eine anderen
Erwartungshaltung evoziert und hätte so auf eine (notwendige)
kritischere Distanz zum Gegenstand hingewiesen.
Der zweite Teil des Triples folgt demnächst.