Dazu muss man natürlich den richtigen Kontext setzen. Wir hatten uns vorher über die Berufe unserer eigenen Väter unterhalten: Chris' Vater war Fernfahrtenfahrer gewesen, der immer eine spannende Geschichte bei seiner Rückkehr zu erzählen hatte.
Meiner war Sonderschullehrer für die "sozial herausgeforderten Kinder".
Und Matthias' Vater war Mitarbeiter bei einer internationalen NGO und mitsamt Familie immer an den aktuellen Einsatzort gezogen: "Ecuador, Thailand und am Ende Vietnam."
Aha. Ok. Also entzündet hatte sich das Gespräch an dem Jammern unseres Chefs über das letzte Gespräch mit seinem kleinen Sohn:
- "Papa, was hast du heute gemacht?"
- "Emails geschrieben."
- "SCHON WIEDER?"
Irgendwie konnten wir unserem Chef hier nachfühlen. Wir sind ja alle in der IT-Branche und (natürlich nur aktuell) nicht sooo wirklich mit täglichen Heldentaten beschäftigt. Was man Sohnemann abends mit Stolz erzählen könnte. Dabei kann IT durchaus spannend sein! Informatik IST spannend!
Computerspiele zum Beispiel…
- "Oh, kleine Computerspiele habe ich als Jugendlicher auch geschrieben! Wir hatten da so einen kleinen Hersteller für Disketten im Nachbardorf und als Kaufanreiz war immer auf der ersten Diskette einer neuen Packung ein Spiel von mir drauf."
Super, Matthias. Danke, Matthias. Klappe, Matthias.
Halten wir also fest: Manche haben es einfach drauf ein erzählenswertes Leben zu führen.
Guy Delisle - Shenzen Reprodukt 152 Seiten in schwarzweiß Paperback | 25 x 16 cm ISBN 9783938511077 18,00 Euro |
Was Delisle als individueller, erfolgreicher, kanadischer Künstler schildert, ist ein dreimonatiger Auftrag als künstlerischer Leiter für ein Studio in China (Shenzhen). Sollte einen eigentlich nicht wundern. Sehr, sehr viel Spielzeug ist mittlerweile "made in china". Sehr viel Elektronik. Sogar Erdbeeren für deutsche Grundschul-Kantinen und Kindergärten sind "made in china". Warum nicht auch Animationsfilme.
Und ist es für die Leute dort auch so ein alter Kindheitstraum an bunten, bewegten Bildern zu arbeiten? Nicht unbedingt. Was Delisle hier schildert ist Fließband. Sehr, sehr freudloses, langweiliges Fließband.
Nun gut, es mag ja sein, dass zu jedem großartigen Werk auch "eine-Menge-nicht-so-spannender-Schrubbkram" gehört. (Und die Leute, die seinerzeit die Steine für die Pyramiden kloppten hatten auch keine wirkliche künstlerische Freiheit.)
Aber Shenzhen ist wohl eine Stadt ohne Cafés, Universität, Konzerthalle - Sehenswürdigkeiten. Dabei zwingt sich Delisle wirklich einzutauchen. Er spricht zwar selbst kein Chinesisch, geht aber ohne Dolmetscher essen, einkaufen, zur Bank, zum Zahnarzt (ok letzteres MIT Dolmetscher) und gibt dem Leser einen sehr nahen Einblick in seine drei Monate in Shenzhen. Ein sehr, sehr langweiliges Leben. Aber erzählenswert geschrieben.
Er ist allerdings auch so fair seinen Kurzbesuch in Kanton zu schildern: Eine quirlige Stadt mit Cafés, Sehenswürdigkeiten, interessanten Menschen, Leben! Hätte ihn das Studio nach Kanton geschickt - anstelle von Shenzhen - es wäre ein anderes Buch geworden. Aufregender! Spannender! All unsere Bilder im Kopfkino bestätigend!
Aber es wäre kein so realistisches Buch geworden: Darüber wie Teile Chinas sind, seit 1949 Mao Zedong die Volksrepublik China proklamierte, 1966 die Kulturrevolution, 1976 deren Ende und dann die sozialistische Marktwirtschaft begann. Wird Europa & Kanada bald obsolet, da es doch furchtbar viele fleißige Chinesen gibt? Naja, die Erfahrungen Delisles sprechen da nicht so für. Werden wir dann unseren 1-A-Ex-Kolonialisten-prima-erste-Welt-Status ewig behalten? Wohl kaum, Delisle schildert eine Welt im Umbruch, die dabei ist sich zu finden. In Shenzhen vielleicht etwas langsamer, phlegmatischer und langweiliger. Aber eine Bewegung ist da.
Fazit: Sehr lesenswertes Buch.
JULES