Was passiert, wenn väterliche Liebe in sexuelles Begehren kippt & wie verarbeiten die Betroffenen diese Übergriffe und die daraus resultierenden Erfahrungen, Wunden und Leiden?
Lauras Lied - die grafische Adaption der autobiografischen Vorlage von Amélie Sarn gibt auf diese Frage eine beklemmende & eindrückliche Antwort. Der Transfer in das Medium Comic kann als äußerst gelungen bezeichnet werden, denn die beiden Verantwortlichen (Corbeyran: Szenario / Murat: Zeichnungen & Farbe) verzichten im Gegensatz zu anderen Auseinandersetzungen mit der sensiblen Thematik des Kindesmissbrauch, auf einen expressiven, unruhigen Strich, sondern bebildern ihren Zugang mit reduzierten, unaufdringlichen Zeichnungen und konzentrieren sich auf den Text.
Die Finesse der Adaption besteht in der sorgfältigen Übernahme des Duktus der Romanvorlage. Die dort verwendete Sprache changiert zwischen atemloser Beschreibung und erschreckender Lakonie und erreicht eine unglaubliche Treffsicherheit, die dem Leser nur selten eine Chance gewährt sich dem Geschilderten zu entziehen. Bereits zu Beginn wird deutlich, dass hier keine beschauliche Familienidylle umrissen wird.
Ich will versuchen euch anhand der beiden hier eingearbeiteten Illustrationen einen Einblick in dieses überwältigendes Mischnarrativ zu ermöglichen - Bild und Text ergänzen sich hier zu einem gnadenlos sezierenden Ganzen. Sarn bedankt sich in einem sehr emotionalen Vorwort bei den beiden Verantwortlichen und hält fest, dass es ihnen überzeugend gelungen sei, ihre Verwirrung, Wut & Verachtung in Bildern einzufangen. Leider fehlt mir der Vergleich zwischen dem Text des Comics & dem literarischen Original - daher kann ich nur schätzen, dass der Ton trotz aller medienspezifisch notwendigen Verknappung auch hier karg & unverblümt ist.
Und eben diese kurzen, prägnanten Sätze peitschen auf den Leser ein, dieser wird immer tiefer und immer schneller in die grausame Vergangenheit Lauras getrieben, muss gemeinsam mit ihr ihre Erinnerungen an die Taten erneut erleben. Auch wenn die Schilderungen der nächtlichen Attacken distanziert und nüchtern eingepflochten werden, unberührt bleibt hier niemand. Und so wird der hervorbrechende Monolog am Krankenbett des komatösen Vater zu einer Selbstbefreiung des Opfers, welches die Brutalität und Grausamkeit in aller Klarheit thematisiert. Beileibe keine leichte Kost, aber ein leider notwendiger Comic.
Meine einzige Kritik an dieser präzisen Studie eines innerfamiliäres Verbrechens ist die etwas unbeholfene Übersetzung des Originaltitels (Elle ne pleure pas, elle chante / Sie weint nicht, sie singt) denn gerade diese verlorengegangenen Formulierung beschreibt ein weiteres Hauptmotiv des Romans. Der sirenenhafte Gesang des Leids, kann er als Erklärung für das Verbrechen dienen?
Erzählt wird hier auch die Geschichte eines liebenden Vaters, der sich nach zwei Söhnen sehnlichst eine Tochter wünschte & der ihr Weinen als Gesang bezeichnet - sich aber später langjährig an ihr vergeht.Was muss passieren, dass dieser Mensch zu einem Täter wird?
Diese für Sarn ungeklärte Frage wird zum Leitmotiv, aufgelöst wird dieser Konflikt jedoch nicht, der Comic verwehrt sich einer einfachen Antwort. Er macht betroffen & sprachlos und ein vertuschtes Verbrechen sichtbar. Lohnende Auseinandersetzung mit einem leider immer noch aktuellen Thema. Wer sich traut, kann den Comic in beiden Filialen erwerben.