Eine Bemerkung vorweg - nur sehr wenige Comics haben mich in den letzten Jahren ähnlich fasziniert wie Lepages neuster Geniestreich Reise zum Kerguelen-Archipel,
daher bitte ich etwaige Überschwangsformulierungen, die auftreten
können, wenn ich aus der gebotenenen, kritischen journalistischen
Distanz desertiere zu verzeihen. Lobgesang is not a crime!
Eine Frage trieb mich beim Lesen dieses Titels immer wieder um. Der
Reisebericht eines Comiczeichners, der auf einem Versorgungsschiff zu
den südantarktischen Überseegebieten Frankreichs reist - kann so etwas
am deutschen Markt überhaupt funktionieren? Oder scheitert dieser
elegante Comic am Desinteresse des Lesepublikums?
Der Titel selbst ist ein tatsächlich überraschendes Format im Portfolio
des Splitter-Verlags, der sich bislang seine Schwerpunkt auf
frankobelgische Fantasy- und Science Fiction-Comics gesetzt hatte. Man
hätte diesen Veröffenlichung eher bei Schreiber & Leser, dem avant-verlag oder auch bei reprodukt erwartet. Aber diese Bemerkung gilt natürlich nur en passant.
Fakt ist - der Verlag hat einen formschönen, aussergewöhnlichen Comic
publiziert. Erfreulicherweise verzichtete man hier auf das gegenwärtig
bestehenden Design der jungen Graphic Novel-Reihe im Verlag und
veröffentlichte den Titel nicht im Kleinformat, sondern in einer
Gestalt, die Ankläge an schwere Atlanten hat. Diese kluge
verlegerische/buchbinderische Entscheidung muss man begrüßen, denn somit
lädt der Comic bereits vor seinem Aufschlagen zum Träumen ein.
Der Titel selbst lässt sich nur schwerlich fassen, er oszilliert
zwischen zahlreichen Erzähltraditionen und überlappt mehrere
Genregrenzen. Am ehesten könnte man ihn als eine Synthese aus
Reisereportage, Skizzenbuch & Tagbuch fassen, dabei würde man aber
die zahllosen Anspielungen und Zitate des Comics unterschlagen.
Vielleicht schafft eine Illustration etwas mehr Klarheit ...
... Lepage rekurriert innerhalb des Comics immer wieder auf seine
Kindheit, auf seine Faszination für Karten, Seefahrerroman und Schiffe -
diese maritimen Motive können als Chiffre begriffen werden, als
Rückblick auf die Wurzeln für seinen späteren Werdegang zum
Comiczeichner. Sie bilden die Grundlage seiner Leidenschaft, die er
später zum Beruf machen konnte.
Und so gerät diese Schiffsreise in eine der spärlichst befahrene
Schifffahrtsregion der Welt auch zu einem introspektiven Auftauchen in
das Bewusstsein des Zeichners. Abseits von telefonischer Erreichbarkeit,
Breitbandinternetverbindung und anderne Ablenkungen wird er ganz auf
sich zurückgeworfen und auch auf seine Mitreisenden, die für die kurze
Zeit der Reise eine verschworene Gemeinschaft bilden.
Lepage vermischt gekonnt Literatur- und Seefahrtsgeschichte und mischt
Sehnsuchtsräume, philosophische Abschweifungen, sowie historische und
literarische Exkurse unter seine deskriptive Schilderungen. Er skizziert
das Personal des Schiffes und flankiert die Porträitierten mit
Kleinsterzählungen, parallelisiert die heutigen Matrosen (und
Mitreisenden) mit dem Schiffsbesatzungen seiner Jugendbücher. Und macht
so einen sehr emphatischen, nahezu intimen Einblick in die Motivationen
der einzelnen Reisenden möglich.
Seine Naturschilderungen sind atemberaubend. Und dem Zeichner, dem das
Meer bislang nur vom Ufer her bekannt war, gelingt die Übertragung
dieser Faszination. Seine leisen, unaufdringlichen Notizen und seine
brillanten, eindrucksvollen Illustrationen wirken noch lange nach, auch
nachdem man den Comic zugeklappt hat. Kann man einem Künstler ein
größeres Kompliment unterbreiten - ich denken nein.
Der Titel selbst wird es in der heutigen Zeit schwer haben. Er muss
bestehen neben grobreizorientierten, schnellen, atemlosen Geschichten
und rasch hingeworfenen Szenarien. Aber gerade in dieser nahezu
meditativen Herangehensweise liegt die Größe dieser Veröffentlichung,
die alle Potentiale der Neunten Kunst gekonnt zusammenbindet.
Lepage hat einen langsamen, beeindruckenden Reisebericht geschaffen, der
von dem Leser ebenso langsam erschlossen werden will. Wirken die Bilder
des Comics beim ersten, flüchtigen Durchblättern noch disparat und
unzusammenhängend, erschliessen sie sich bei der ersten Lektüren als ein
brillant durchchoreografiertes, stimmiges Ganzes.
Die Wucht, mit der manche Bilder wirken, kann ich einer schriftlichen
Annäherung niemals fassbar gemacht werden, weil diese fragmentarisierte
Betrachtung dem Zusammenwirken zwischen den schön anzuschauenden
Farbspiele der Aquarellzeichnungen, der originellen Porträtskizzen und
der pointierten Figurenzeichnungen nicht gerecht werden kann.
Ebenso muss auf eine nähere Betrachtung der bewegenden inneren Monologe des Zeichners verzichtet werden. An diesem Titel muss eine schriftliche Annäherung scheitern - und genau hier wird die narrative Überlegenheit des Comics deutlich sichtbar.
Ebenso muss auf eine nähere Betrachtung der bewegenden inneren Monologe des Zeichners verzichtet werden. An diesem Titel muss eine schriftliche Annäherung scheitern - und genau hier wird die narrative Überlegenheit des Comics deutlich sichtbar.
Lepage arbeitet nach einem altbekannten Prinzip, mit dem Naturforscher,
Entdecker, Ethnologen seit Jahrtausenden arbeiten - das Feld der
deskriptiven Beschreibung wird dann verlassen, wenn eine Visualisierung
der Orte ertragreicher scheint. Er kombiniert gekonnt Gedankenfragmente
und rasch skizzierte Orte und schafft in dieser Kombination einen
sinnlichen Wahrnehmungsraum, der sich weigert sich auf die Worte alleine
zu beschränken.
Durch diese bewusste kombinatorische Wahl der Mittel gelingt es ihm auch unbedeutenden Situationen, wie das Rauchen an Deck in einer stürmischen Nacht (siehe folgendes Panel) zu etwas Aussergewöhnlichem zu machen. Ein Comic der zum sich zwischen den Bilder verlieren, zum träumen und zum sehnsüchtig werden einlädt. Ich wünsche ihm viele faszinierte Leser.