Mittwoch, 27. November 2013

emails von JULES… heute: "Berichte aus Russland"

Wann ist man ein Comic-holic? Die Frage kam in abendlicher Runde auf als ich von meinem letzten Beutezug schwärmte: Daytripper! Mädchenworld! Und - Marx! Aha. Comics? Comics!

Also, das wäre ja ganz süß gewesen als ich im Frühjahr diesen Spleen entwickelt hatte [editorischer Hinweis: Seit dem letzten GCT!] …aber nun sei auch mal gut, ja?

Ob ich denn eine Midlifecrisis hätte? Ob ich denn wissen würde, was andere in so einer Midlifecrisis tun würden, hmm?
Genau! Motorrad und Blondine! [brüllendes Gelächter]
Aber bei meiner Grobmotorik wären Comics vielleicht doch die bessere Wahl [Sprecher verschluckte sich beim Lachen über seinen eigenen "Witz" ganz furchtbar, prustete alles voll und hatte dann Atembeschwerden. Karma, Baby!]

Nun mal Butter-bei-die-Fische: Irgendwann muss der Speicher doch voll sein mit Micky-Maus-Heftchen für 1,90.

DAS SIND KEINE MICKY-MAUS-HEFTCHEN!
Das sind Mädchenworld (- und Fil kennt Ihr)
und Marx [Stimme aus dem Off: Mit Cape? Und großen Ohren?]
und Daytripper der best-Comic-ever!


Aha. Also besser als der "best-Comic-ever" von letzter Woche?
Wie hieß er denn noch gleich? Berlinoir?
Berlinoir! Jenau! Mit Vampiren!
Ist Berlinoir besser als Daytripper? Hmm?

Ja. Aber darum geht es nicht. Beide sind toll und alles andere als hirnerweichende Dauerberieselung und ganz weit ab von MickyMausHeftchen…
… und kosten auch etwas mehr als 1,90 Euro.

Wieviel?
Kommt drauf an. Ein guter Comic oder neudeutsch-buchsprech "Graphic Novel" kann durchaus so zwischen 20 bis 30 Euro kosten.

Wieviel??? Und wieviel schleppst du davon pro Woche an? Sollen wir uns Sorgen machen? Haben wir da ein kleines Sucht Problem? So Richtung Alkoholiker nur mit Comics? So'nen Comic- holic? Comicholic. Hähä…

An dieser Stelle wies ich den Frechdachs mit Verweis auf das Fitness-Studio in die Schranken, dem er jeden Monat über 100,- Euro überweist [Black Label - my Ass!] und nie, nie hingeht. Weil er keine Zeit hat. Und es peinlich ist. Unter all den fitten, schönen Menschen… aber er zahlt! Jeden Monat! Ich geb pro Monat weniger für Comics aus als er für sein Fitnessstudio, das er nie besucht. Und meine Comics lese ich!

Nach einer kurzen, peinlichen Pause gab es den Versuch noch eine versöhnliche Kurve zu einem neuen Gesprächsthema anzusteuern:
Man könne mir doch nicht vorwerfen, diese Comics zu lesen, wenn es a) Rezensionsexemplare sind, die b) nicht ausgesucht, sondern zugeteilt werden.
Das war dann der Moment für schlagartig nüchtern & stocksauer.
Das ist nicht der Punkt!
[…zensierter & nicht jugendfreier Meinungsaustausch mit Alkohlbeteiligung…]

Jedenfalls waren die anfangs genannten Daytripper, Mädchenworld und Marx keine Rezensionsexemplare sondern reguläre Einkäufe.

Ich liebe Comics. Ich brauche Comics. Ich liebe & brauche auch Bücher. Habe auch eine weitaus größere Büchersammlung.
Wie hieß es doch bei der alten Kollwitz-Buchhandlung so schön?
"Bücher sind Lebensmittel"

Ahhh-ja. Und wieviel "Lebensmittel" bräuchte ich so? Jetzt mal so pro Monat?
Unterschiedlich. Kommt auf den Hunger an. Ob ich gerade in einer "Frustfress-Phase" sei.
Ja, ist klar. Und was … "frisst" man dann so?
LeuteLeuteLeute.
Es gibt Comics zur hirnbefreiten Unterhaltung, alberne Witze, große Kunst, brilliante Illustrationen, grobe Zeichnungen zu groben Thema, Abenteuer in fremden Welten, Sachthemen graphisch aufbereitet, anspruchsvolle Literatur, Vergangenheitsbewältigung, Historie, Science-Fiction und und und.


Es gibt also auch ernste, anspruchsvolle Comics?
Ja-HA!
Beispiel!
Barfuß durch Hiroshima wurde mir vor sehr langer Zeit mal als romantisches Weihnachtsgeschenk überreicht mit dem Hinweis "man möge doch Comics und da habe der Verkäufer den ganz besonders …"
??
Barfuß durch Hiroshima ist ein autobiographisches Werk über einen kleinen Jungen, der den Atombombenabwurf überlebt, um dann seinen Vater und seine Geschwister in der Apokalypse sterben zu sehen und nicht helfen zu können, während seine hochschwangere Mutter durchdreht, das Baby bekommt, während ringsum die verstörten Strahlenopfer mit der abblätternden Haut und geplatzten Augäpfeln durch die Strassen irren auf der verzweifelten Suche nach Hilfe und ohne zu verstehen, was passiert ist und weswegen die Schmerzen nicht mehr aufhören. Das Schlimme ist ja - das ist wirklich passiert.

Und das war ein "romantisches Weihnachtsgeschenk"?
Yup.
Harter Stoff.
Kann man sagen. Ist aber ein Comic.
Sowas gibt es auch.

Igort: Berichte aus Russland
- Der vergessene Krieg im Kaukasus -


Reprodukt
Paperback | 24x17 cm | 176 Seiten
ISBN 9783943143379
24,00 Euro

Berichte aus Russland bündelt einige Amnesty International Berichte von dem was JETZT gerade im Kaukasus passiert. Es ist Horror. Es sind Dinge, die ich in einem KZ vermutet hätte - vor 1945. Und wie seltsam wirkten seinerzeit bei all den Berichten über KZ die Unwissenheit der deutschen Zivilbevölkerung. Zumindest in Teilen. Nein, das haben sie nicht gewusst. Nein, das können sie nicht glauben. Nein, das kann doch gar nicht sein!
Dieser grenzenlose Sadismus.
Doch, das kann sein.
Das ist sogar.
Jetzt.
Im Kaukasus.

Ich hatte den Link zu einer Leseprobe genutzt um zwei der Berichte zu lesen. Danach war ich wach. Und hatte für den Rest der Nacht Schlafstörungen.
Wenn man das Buch dann wieder zuklappt.
Sich ausstreckt. Kurz die Heizung streichelt.
Kleiner Ausflug in die Küche. Kühlschranktür öffnen. Andächtig staunen.
A-l-l-e F-i-n-g-e-e-r einzeln abzählen…

Dann fühle ich mich mies mit meinem unverschämten Glück in ein erste-Welt-Land mit vollem Kühlschrank und funktionstüchtiger Heizung geboren zu sein
ohne [mir fehlen die Worte]

Jetzt ist vielleicht die nächste Frage, was das soll?
Man kann den Menschen dort ja doch nicht helfen.
Warum soll man sich selber fertig machen, indem man darüber liest?
Wir sind es Ihnen schuldig
- sie nicht zu ignorieren.
Das was Amnesty International im Kaukasus leistet
- und es ist die letzte Hoffnung für viele -
kann nur geleistet werden, indem fette, nicht-direkt-betroffene Bundesbürger hinhören und hinsehen. Auch wenn eine offensichtliche Sofortlösung nicht von einer Privatperson erbracht werden kann.

Die Berichte aus Russland sind nicht textuell, sondern in Comicform verfasst, was es etwas einfacher macht die Geschichten vollständig zu lesen … bei einer rein textuellen Darstellung hätte ich vorher abgebrochen und das Buch ganz, ganz weit weg gelegt. Informationsvermittlung über Bilder geht schneller, aber die Bilder verfolgen einen dann auch.

Jules