Denkzeichen zum 20. Jahrestag des Mauerfalls Brunnenstr. 10 in Berlin-Mitte im Jahr 2009 (Postkarte von Modern Times) |
Jetzt steht dieses Haus vermutlich überhaupt nicht mehr. Aber als Postkarte hat zumindest die Erinnerung überlebt - an das Grafitti & das dazugehörige Haus & seine Geschichte.
Ich hielt die besagte Postkarte in der Hand, als mich meine Tochter fragte, weswegen ich so seltsam grinsen würde … was das überhaupt bedeuten würde … "in einem anderen Land"? War das Haus eventuell weggeflogen? [Ja, mein Kind geht durchaus ins Kino.]
Und als ich darauf hinwies, das Haus hätte seinen Standort nicht verlassen, nur das Land wäre "weg"- da ging die Fantasie mit meinem Kind durch! Ob das vielleicht Atlantis gewesen wäre oder ein versunkenes Königreich? Ein magischer Ort voller bunter Farben & seltsamer Tiere, verborgener Schätze und sehr weiser Menschen?
Nein, Schatz. Wir reden hier von der DDR! Die Begriffe "bunt", "Schätze", "Weise" passen hier nicht wirklich, genauso wenig wie in Westdeutschland! Westdeutschland?
Danach versuchte ich ihr etwas über die Wiedervereinigung zu erzählen, von Ost- und Westdeutschland, von Ost- und Westberlin. Ging gut. Bis zur Abschlussfrage: "Können wir da mal hinfahren?" Seufz. Kinder & selektive Wahrnehmung & ich war selbst nicht anders gewesen.
Ich hab' dann mal von einem Kumpel den Klassiker "Eins, Zwei, Drei" ausgeliehen, der zwar sicher nicht in die Kategorie "pädagogisch wertvoll" fällt, aber doch etwas an Eindruck über die geteilte Stadt Berlin vermitteln konnte. Mit für Kinder völlig akzeptabler schmissiger Musik! [Bei der Gelegenheit kam im Freundeskreis das große Erstaunen, dass genau dieser Film auch bei Ostbürgern bekannt war? Hallo? dachtet ihr, die hätten im Osten keinen Humor? Anderes Thema.] Aber wenn man Jüngeren erklären will, dass Systeme durchaus "verschwinden" können, wie sogar ganze "Länder", dann ist das manchmal nicht so einfach.
Die Graphic Novel "Marzi" von Sylvain Savoia / Marzena Sowa schildert Polen - das über die Jahrhunderte sicher viele, viele Fälle hatte, in denen "Häuser früher in einem anderen Land standen". In diesem Buch geht es allerdings nicht um Jahrhunderte, sondern um die Jahre 1984 - 1987. Das ist zeitlich und räumlich noch nahe genug. Um sich selbst noch an diese Zeit zu erinnern. Und gleichzeitig so unglaublich fern, dass es wirklich wie ein exotischer Reisebericht wirkt.
Es gab ja durchaus moderne Technik wie beispielsweise Kühlschränke. Für jeden. Aber in diesen Kühlschränken war nicht unbedingt was drin. Für jeden.
Es gab gesteuerte Einteilung / Verteilung von Lebensmitteln. Aber um diese auch tatsächlich zu bekommen, musste man sich anstellen.
In Schlangen.
Vielen, vielen Schlangen.
Die sich teilweise sogar kreuzten.
Ist heute im wiedervereinigten Deutschland nur noch schwer vorstellbar.
Kann man Kindern heute auch nur schwer vermitteln.
Aber will man das?
("Ein Beispiel, liebe Racker! Es werden beim Saturn/MediaMarkt/Baumarkt/Einkaufszentrum kostenlos Luftballons verteilt, alle Kinder rennen hin, aber es ist nicht genug da und nicht alle kriegen einen Luftballon. Was macht ihr dann?" Antwort: "Brüllen!", "Mama!", "Auf-den-Boden-schmeissen!", "Papa!!". Ok, kein gutes Beispiel für den sozialistischen Alltag damals … Weder in Polen, noch in der DDR.)
Jedenfalls wird geschildert, dass dieses ewige Schlange stehen durchaus auch Alltag für ein kleines Mädchen (wie die Buchheldin) war.
Es werden aber auch ein paar Elemente geschildert, die es so heute weder in Ost- noch West-Deutschland mehr gibt: Kinderrudel! Also nicht unbedingt "Kinderbanden" wie "Intensivtäter-Azubis". Sondern einfach größere Mengen von Kindern, die von Erwachsenen unbelästigt miteinander spielen konnten. Ohne notwendiges "pädagogisch-wertvoll-Gütesiegel"!
Interessant war an dieser Stelle auch die Schilderung eines Spieles im eigentlich komplett säkularen, atheistisch korrekten, keimfreien Umfeld: "Papst"! In einer Randepisode ist die kleine Heldin das katholische Kirchenoberhaupt - eben Papst - und Papst kommt zu Besuch, wird vom Bischof begrüßt, alle küssen die Hand, dann wird gesegnet, gepredigt und getauft, was das Zeug hält. Dann muss sie wieder zurück in den Vatikan [aka der 11.Stock im Hochaus]. War solange ein tolles Spiel, bis die Mutter eines Babys in die Taufzeremonie hereinplatze. Also Taufe mit Komplettuntertauchen und das Baby konnte noch nicht sprechen. Danach war Schluss mit Lustig. Aber ich wette sowas spielen die noch nicht mal in Bayern!
Nachtrag:
Dieses Buch ist einerseits nicht unbedingt was für Kinder, da auch die sehr üblen Seiten wie Hunger, Unterdrückung, Gewalt geschildert werden. Aber die Schilderung erfolgt durch die Augen eines kleinen Mädchens basierend auf den tatsächlichen Kindheitserfahrungen der Autorin. Und damit ist es auch für Kinder wieder verständlich.
euer JULES