Sonntag, 27. November 2011

Dichtung & Wahrheit bei Fables & The Unwritten

In der sogenannte Comicgemeinde tobt ja seit einigen Monden ein merkwürdiger Streit zwischen zwei sich spinnefeinden, strukturkonservativen Stämmen. Die Druiden des ersten haben sich auf die gehobene Erzählform der Einzelbände eingeschworen, während die Barden der Anderen alle Titel, die nicht dem geheiligten Serienformate zugehörig sind, von ihren Lobpreisungstelepromptern verbannen wollen ...

... zahlreich sich die ideologischen Begrifflichkeiten, die hier von beiden diplomatischen Corps ins Felde geführt werden, es werden Spiegelfechtereien abgefochten, bei denen die Pole scheinbar unvereinbar miteinander sind. Literarizität vs. Serialität, Einteiligkeit vs. Unabgeschlossenheit und Neuartigkeit vs. Genrekonvention - sapperlot, es wird mal Zeit diese beiden Haufen kräftig zu ohrfeigen & sie auf eine gemeinsame Spielwiese hinzuweisen.

In diesem narrativen Schlaraffenland gehen die angeblichen Widersprüche Hand in Hand und nehmen sich zusätzlich noch auf den Arm. Kluges Erzählen trifft auf clevere Genresatiren, anspruchvolle Charakterentwürfe werden eingebettet in spannenden Pageturnern - und beide Lautsprechergruppen reiben sich verwundert die Augen, ja hättet ihr mal Fachkräfte befragt, statt euch nur auf Amazonempfehlungen zu verlassen.

Liebe Graphic Novelisten, keine Angst, man bekommt von Tradies keine Pickel und liebe Tradie-Traditionalisten, eine gute Geschichte benötigt nicht zwingend (Super-)Helden ...

... ich bitte beiden Gruppen zu mir rüber, wir begeben uns jetzt auf ne kleine Reise durch die weitläufige Welt der "literarischen Comics", dringen tief ins Reich dieser bösartigen Chimäre, die den Buchrücken einer Graphic Novel und den Kopf eines Comics trägt. Bitte stellen sie das Raufen ein & verstauen sie ihre Vorurteile bitte fest im Gepäcknetz.


Den ersten weitläufigen Kosmos, den wir bei unserer Genresafari betreten werden, findet man zwischen den zahlreichen mit atemberaugenden Design geschmückten Buchdeckeln, des mehrfach preisgekrönten Großwerk Fables. Inzwischen sind wir in Deutschland bei Band 14 dieser absoluten Ausnahmeserie angekommen und ich hoffe, dass diese Zahl mindestens verdoppelt werden wird ... in den Staaten ist sie still on going, die Chancen stehen also recht gut.

Fables - die Bewohner dieser Welt sind allbekannte, erdachte Geschöpfe, die nachdem sie der gesichtslose Feind aus den angestammten Fabelländern vertrieben hat, heute in der realen Welt des heutige New Yorks heimisch sind. Märchenfiguren allerorts. Alt! rufen jetzt die Sandman-Adepten & sie behalten Recht, aber Fables geht weiter Die Serie beschränkt sich nicht auf Mythen, sondern leiht sich Bezugsrahmen auch bei Liedern, Sagen, Märchen, Literatur(-theorie), Gegenmythen & modernen Verschwörungsspinnereien.

Bill Willingham gelingt mit dem Skript dieser Serie der ganz große Wurf, statt nur den phantastischen Gaiman-Kosmos nachzubilden, erschafft er etwas vollkommen neues, tendenziell endloses und völlig offenes.

Offen bedeutet hier: Bezüge auf antike Mythen werden parallel montiert mit nordischen Sagas, mythische Geschöpfe der arabischen Welt treffen auf populäre Figuren europäischer Kindbuchdichtung und selbst das abstrakte Theorieprinzip der Ordnung der Dinge wird personalisiert und tritt als (wenig symphatische) Figur auf.

Willingham verleiht seinen Figuren, die sonst nur festzugewiesene Plätze im Gefüge einer Erzählung innehalten, große Spielräume. Die altbekannten Funktionsträger erhalten psychologische Tiefen und wachsen weit über ihre bisherigen Rollen hinaus. Er geht noch deutlich weiter, beiläufig entspinnt er hier eine alternative Geschichte der Literatur, tradierte Geschichten, die seit Menschengedenken mündlich weitergegeben wurden, müssen mit den aktuellen Geschöpfen der zeitgenössischen Literatur konkurrieren, Erzählungen verdichten und überlagern sich, werden aufgesaugt, aktualisiert und in ihrer ursprünglichen Form aus dem Gedächtnis der Welt verdrängt.

Während oftmals beklagt wird, dass die aktuelle Comicdichtung standardisiert und innovationsarm ist, ist es Fables erwartbar das Unerwartbares und Erfrischendes nebeneinander existiert ohne sich zu behindern Die Geschichten werden ohne intellektualisierte Überspreizung erzählt, eine zwanghafte Aufwertung findet nicht statt. Man verbleibt bewusst im Reich des Comics, reichert aber diese Welt an mit zahlreichen Abzweigungen in den Wald der Fiktionen.

Willingham erweitert, radikalisiert und persifliert die Erzählstandards des Comics. Heldendichtungen werden hier nicht affirmativ übersteigert, sondern konsequent gebrochen, Erwartungshaltungen werden mehrfach unterlaufen, die Feindbilder bleiben verwirrend und diffus. Der Herrscher der Armeen des Feindes ist nicht der in fernen Zeiten entstellte Bösewicht oder der widerspruchslose Böse des Märchens, sondern ein Schurke mit eigener Agenda - und ich verspreche nicht zu viel, wenn ich jetzt sage, ihr werdet überrascht sein, wenn ihr erkennt wer hier die Fäden zieht.

Kurz gesagt, Märchen werden hier nicht nur neu erzählt, sondern auch ihre unausgesprochenen Schattenräume werden durchleuchtet, die Streichungen und Zähmungen der Überlieferungsgeschichte(n) werden thematisiert. Grimms Märchen begegnen uns hier in ihrer ursprünglichen, deutlich sexualisierteren Form, die verschwiegenen Gegenmythen erhalten Erzählräumen - hier wird auch die Entstehung des Anderen und die erzählerische Macht über ihn thematisiert.

Fables ist quasi eine flexible Gegengeschichte zu den erstarrten, standardisierten Erzählungen unserer Zeit, ein kluges, intellektuelles Vergnügen, welches die Macht & Faszination des Geschichtenerzählens in den Mittelpunkt der Welt stellt und diesen schöpferischen Akt dabei als die kreative Kraft hinter allem Menschlichen feiert, denn die Menschheit wäre nichts ohne ihre Geschichten (und ihre Relektüren).

Wir besässen weder Mythen, Träume, Utopien, Religion noch Gesetze, ohne Geschichten wären wir noch immer Ahnungslose, die das Schattenspiel an der Höhlenwand als befriedigend erleben. Glücklicherweise sind wir heute weiter, auch wenn die Zensur von Unliebsamen, das Totschweigen von Erschreckenden und das Verdammen der Darstellung von Abstossenden noch immer nicht verschwunden ist.

Für alle Neugierigen, Mutigen & erzählerisch Anspruchsvollen aus beiden Lagern kann ich nur eine sehr deutliche Flaneurempfehlung aussprechen - den diese verdammenswerte, populärkulturelle Äusserung, dieser Comic (!!!) erzählt auf- und anregender, wacher, boshafter, erhellender als zahlreiche Titel, den dieser vermeintlich als Qualitätsmerkmal missverstandene Hinweis "Graphic Novel" angeheftet wurde.

Und er benötigt hierzu weder affirmative Heldenfiguren noch wiederkehrende Erzählstereotypen, was bestimmt auch manch einen strukturkonservativen Comicleser abschrecken, aber mal ehrlich, dann sitzt hier weiter zitternd in eurer Wagenburg & beweist nur, dass ihr exakt die selben Kleingeister seid, wie die von euch oft gescholtenen Graphicnovelfundis .. ihr dürft beide wegtreten - der Rest greift bitte hier bei uns zu.


Der zweite zu besuchende Kosmos ist deutlich jünger, steht aber Fables in keinem einzigen Punkt nach. Auch The Unwritten bewegt sich sich im Großraum der erzählerischen Abweichung, jedoch bezieht die Serie ihrer Kraft hier nicht aus dem Unterlaufen der traditierten Erzählordnungen, sondern aus der Suche nach der Inspiration ausserhalb der Geschichten.

Die Grenzen zwischen faktischer, tatsächlicher Welt und den Welten des Erdachten sind für die Hauptfigur der Serie Tommy Taylor durchlässig, ein Wechsel zwischen ihnen ist jederzeit möglich. Faszinierend hierbei ist das profunde historische Wissen des Autors (Carey), welcher sein Figur immer wieder literarische Topographie betreiben lässt.

Taylor begibt sich auf eine Reise zu den Hotspots der Literatur, durchschreitet die Karte der Imagination - egal, ob vor dem realarchitektonischen Vorbild für das Wahrheitsministerium über Orwells 1984 sinniert oder in der Villa Diodati, dem Entstehungsort von Frankenstein tief in eine der folgemächtigsten Geschichten der Moderne eintaucht - immer wieder wird die Grenze zwischen Realität und Fiktion und die Überlappung der beiden Sphären der Literatur deutlich markiert.

Aber Taylor ist noch mehr als ein weltenwechselbegabter Mensch, Carey thematisiert stets auch das Messiahsmotiv innerhalb der Reihe mit, denn Tommy ist das Wort, welches Mensch wurde. Als Vorbild kann hier jedoch eher Harry Potter dienen, als eine alte Geschichte über einen wunderwirkenden Zimmermann aus Nazareth. Innerfiktionale narrative Konkurrenz eben.

Bislang sind vier Sammelbände in englisch und der erste in deutsch erschienen (der zweite folgt in wenigen Tagen) und ich muss sagen, ich bin unglaublich fasziniert, zwar ist Careys literarischer Kosmos überschaubarer, aber die unglaubliche Macht seiner Bilderwelten und abgründigen Erzählungen machen The Unwritten bereits jetzt zu einem hitzigen Thronstürmeranwärter, der Fables und womöglich sogar Sandman als Referenzbeispiel für die klügste literarische Auseinandersetzung im Comicgewand ablösen könnte.