"Man muss nur ein wenig an der  Oberfläche kratzen, und schon spürt man  hinter der sowjetischen  Verschlossenheit das Verlangen, angehört zu  werden…" 
Präziser kann man die Struktur dieses eindrucksvollen Comicjournalismusexperiments kaum beschreiben. Denn Igort  gelingt es nicht nur eine packende Dokumentation seines zweijährigen  Aufenthalt (2008/09) in der Ukraine abzuliefern, er dringt gleichzeitig  tief in das Gewebe der zahllosen Geschichten ein, die dieser Landstrich  bietet.
Igort, in Deutschland als einer der wichtigsten Vertreter der italienischen Independentcomicszene Italiens bekannt, welcher gemeinsam mit Mattotti (u.a.) die Künstlergruppe Valvoline gründete - überführt den dokumentarischen Comic auf ein neues Niveau.
Igort, in Deutschland als einer der wichtigsten Vertreter der italienischen Independentcomicszene Italiens bekannt, welcher gemeinsam mit Mattotti (u.a.) die Künstlergruppe Valvoline gründete - überführt den dokumentarischen Comic auf ein neues Niveau.
Zwar hatte sich Reprodukt schon mit Delisles Werken im  Segment des getuschten Reiseberichts positioniert, aber die  Herangehensweise des gebürtigen Italieners unterscheidet sich  grundlegend von der des Frankokanadiers. Während bei Delisle der luzide  Humor und das tagesaktuelle Geschehen im Vordergrund steht, dominieren  bei Igort die klassischen Formen des Portraits und der historischen  Erzählung.
Igort gewährt seinem  Leser einen umfangreichen zeitlichen Einblick in die blutige Geschichte  der Ukraine. Einen grafisch eigenständigen Rückblick, dem er elegant mit  den Einzelschicksalen seiner Interviewpartner verknüpft. Im Mittelpunkt  stehen die Jahre 1931-33, als der stalinistische Terror sich auf einem  frühen Höhepunkt befand. 
Die ideologisch motivierte  Hetzjagd auf die sogenannten Kulaken hatte begonnen. Was im März 1931  mit einer Massendeportation von "konterrevolutionären Kräften" begann,  gipfelte durch die schonungslose Zwangsrequirierung von Lebensmittel und  die misslungene Kollektivierung der Landwirtschaft, in einer der  schlimmsten, bewusst herbeigeführten Hungerkatastrophen des Zwanzigsten  Jahrhunderts. Mitten in der Kornkammer des Sowjetimperiums.
Während die Propaganda die  Massnahmen als "Entkulakisierung" euphemisierte, kostete dieser Krieg  ohne Waffen mindestens ein Viertel der Ukrainer das Leben - ob all diese  Opfer der ideologischen Schablone des Großgrundbesitzer zuzuordnen sind  war auch damals fragwürdig. Die Hungerkatastrophe selbst erhielt ein  eher überschaubares mediales Echo, der gleichzeitige Aufstieg der NSDAP  fesselte die Weltöffentlichkeit stärker. Die Ereignisse sind heute unter  dem Begriff des Holodomor (Wikipediaeintrag)  bekannt - auch wenn eine Anerkennung dieser Taten als Völkermord in  zahlreichen europäischen Ländern erschreckenderweise noch aussteht. 
Später wurden die Ereignisse  ideologisch motiviert in verschiedene historischen Diskussionen  eingebracht und erreichten dort als ein umkämpfter Begriff, der die  Opfer instrumentalisiert und marginalisiert, traurige Berühmtheit. Umso  erfreulicher ist deshalb, dass Igort nicht in diese inzwischen  hoffentlich überwundenen Gesänge einstimmt, sondern die unglaubliche Not  und die schiere Verzweiflung der Betroffenen in seiner klugen,  differenzierten Auseinandersetzung deutlich herausstellt.
Welche Folgen der Hunger haben  kann, wird von Igort in eindrucksvollen, expressiven Bildern dargestellt  - der brutale Kampf um die verbliebenen Lebensmittel, die verzweifelte  Bereitschaft auch das verdorbene Fleisch  von toten Tieren - nennen wir  es beim Namen: Aas - zu essen und die belegten Fälle von Kannibalismus -  nichts bleibt dem Leser erspart. Auch die deutsche Besatzungszeit und  die Nuklearkatastrophe in Tschernobyl werden thematisiert, wenn auch  deutlich weniger ausführlich als der Holodomor.
Hoch anzurechnen ist dem  Zeichner hierbei, dass er keine fragwürdigen Katastrophenvoyeurismus  betreibt, sondern sich dem komplexen Thema gekonnt journalistisch  annähert. Natürlich kann man das biografische Element dieser  zweijährigen Reise nicht ausblenden. Igort - gebürtig Igor Tivori  kam 1958 als Sohn ukrainischer Exilanten in Italien zur Welt - und so  kommt es bei dieser Reise zur den familiären Wurzeln auch zu einem  Eintauchen in die Vergangenheit. 
