Bei einem Erwachsenen reicht ein Schatten unter Wasser oder die bekannte Filmmusik um an "Jaws" zu denken und den ganzen Film abzuspulen. Kleine Kinder beeindruckt sowas wenig. Die sind dann eher gelangweilt. Dachte ich zumindest. Bis zu dem Tag an dem ich das Vergnügen hatte einer Tischunterhaltung im Kindergarten zuzuhören.
Ich war zu früh, wollte meine Tochter nicht aus der Vesperrunde rausreißen und entschloss mich daher mich am Rand dazuzusetzen und ein wenig zu dösen. Genauer gesagt waren es drei verschiedene Tische mit jeweils einem eigenen Gesprächsthema, das offensichtlich nicht von einer Erzieherin vorgegeben war. Die Erzieherinnen bereiteten gerade etwas im Nachbarraum vor.
Tisch 1 hatte als Thema, was für ein böser Mann Saddam Hussein ist. Wir reden hier über das Jahr 2007. Und von etwa zwei- bis fünfjährigen Kindern. Etwas später stellte sich heraus, dass die eine Mama Fernseh-Redakteurin war und ihre Tochter so nebenbei hervorragend informiert über die üblen Seiten der Politik. Die sehr üblen Seiten der Politik. Hallo? Müssen Kinder in dem Alter sowas wissen?
Tisch 2 hatte nach etwas reinhören auch ein spannendes Thema: "Wann genau stirbt man eigentlich, wenn man aus einem Hochhaus springt?" Gleiche Altersklasse. Und ich weiß wirklich nicht, wie die auf DAS Thema gekommen sind. Aber ich weiß sehr gut, wie erleichtert ich war, dass mich meine Tochter NICHT fragte: "Mama, wann genau…? Hmm?"
Was hätte ich denn antworten sollen?
"Ja Schatz, dann hat man noch ganz viel Zeit, also bis man unten ist, also man kann dann noch … nachdenken … über …" Aaaargh. "Nein Schatz. Man wird direkt ohnmächtig und merkt gar nichts mehr. Magst du noch ein Eis?"
Tisch 3, an dem meine Tochter saß. Also Tisch 3 hatte ein schönes Thema: Schmetterlinge sind toll! Ich war so erleichtert und die Vesper dann auch vorbei.
Vielleicht unterhielt sich meine Tochter vorher/nachher auch über übles Zeug. Ich weiß es nicht. Aber ich wußte danach, dass man kleine Kinder nicht unterschätzen sollte.
Kommen wir zum Punkt:
Luke Pearson Hilda und der Mitternachtsriese Hardcover | 44 Seiten | DIN A4 Reprodukt ISBN 9783943143577 18 Euro |
Das Buch "Hilda und der Mitternachtsriese" spielt sehr schön mit den Auslösern zum Kopfkino. Es beginnt mit einer Kleinfamilie, die anscheinend komplett isoliert in einem kleinen Haus in den Bergen lebt und von Steinwerfern attackiert wird. [Hand hoch, wer jetzt an einen Klassiker denkt, der Sorte "Unschuldige Familie in einsamen Haus wird von bösen einheimischen Hinterwäldlern belauert"]
Ist aber nicht so. Sind zwar böse einheimische Hinterwäldler. Aber nur sehr kleine. Die diese Kleinfamilie als Eindringlinge sehen und um ihr Recht dort zu leben kämpfen. [Hand hoch, wer an das typische Motiv denkt "ignorante Amerikaner bauen Einfamilienhaus auf altem Indianer-Friedhof/Heiligtum"]
Ist aber nicht so. Kleinfamilie verschanzt sich zwar im verdunkelten Wohnzimmer während die Steine fliegen. Aber es sind wirklich nur kleine Steinchen, von sehr kleinen Angreifern.
Dann kommt der Riese.
Riesiger, amorpher, schwarzer Schatten.
[Hand hoch, wer als Kind Alpträume von schwarzen Schatten mit rot glühenden Augen hatte. Also alle bitte jetzt, ja?]
Ist aber nicht so.
Ist aber vor allem nicht so, da die Heldin ein kleines Mädchen ist, das sich nicht fürchtet, sondern sauer ist. Und kämpft. Wobei "kämpft" es nicht wirklich trifft. Sie tut eben einfach nur das Naheliegende. Und das Naheliegende ist am nächsten Morgen mit den kleinen Angreifern zu kommunizieren und sich wortwörtlich die Augen öffnen zu lassen.
Wobei man mit offenen Augen dann eben nicht nur erkennt, dass diese Kleinfamilie in aller Unschuld die Behausungen der Elflinge platt trampelt. [Also, da facto ist die Kleinfamilie das Problem. Hand hoch, wer jetzt an einen beliebigen Horrorfilm denkt, basierend auf dem Thema "Umweltzerstörung rächt sich ganz böse und nachhaltig".]
Sondern auch, dass diese Elflinge in einer 1A-Behörden-Politiker-Struktur reden, denken, handeln. (Was für Erwachsene einen durchaus amüsanten Wiedererkennungswert hat. Für Kinder vielleicht auch? Weiss man's? War Saddam Hussein Tischgespräch?)
[Aber ab da endet, die Erwartungskette im Kopfkino. So ziemlich. Hand runter!]
Die mutige, kleine Heldin löst dann so nach und nach die Probleme der Elflinge, des Riesens (nicht inhaltlich miteinander verbunden)
- und sogar ihrer Mutter.
Bis zum Finale.
Einem Happy-End.
Zumindest für 2/3 der beteiligten Gruppen.
Ein sehr schönes Happy-End.
Und der traurige Rest? Hat auch in der Episode ein "End", das aber zugleich ein Neubeginn ist. Was ja nicht das schlechtes Ende ist.
Also ein für Kinder sehr empfehlenswertes Buch mit Wortwitz, guten Zeichnungen und einer Geschichte, die Leser jeder Altersstufe auf jeweils IHREM Level von Kopfkino abholt.
euer JULES
Luke Pearson Signierstunde
Donnerstag 6. Juni * 17 Uhr
Torstrasse 75 * Berlin-Mitte
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