Samstag, 19. Oktober 2013

emails von JULES… heute: "Mein Freund Dahmer"

"Deep in Pennsylvania is a town sitting on top of a mine that caught fire in 1962, and is still burning. The 47 year fire has caused Centralia to be just a few evictions away from disappearing entirely."
[Aus der Abteilung Wikipedia: "Wissen, das die Welt nicht braucht"]. Bin auf diese Info über Youtube gestossen [Abteilung: "Wissen, das die Welt nicht braucht- aber furchtbar gerne anguckt!"]. Genauer gesagt hatte ich ein Video über Fukushima gesehen, bin dann einem Link zu Reaktor-Unfällen gefolgt, der mich zu einem Link über Geisterstädte führte - und dann eben Centralia.

Die amerikanische (Ex-)Stadt Centralia war seinerzeit sehr nahe an eine Kohlen-Mine gebaut, die Kohlen waren irgendwann alle [Hallo Ruhrpott!], die Gegend aber so nett gelegen, dass die Leute trotzdem dort wohnen blieben. Dann kam es zu einem kleineren Müll-Deponie-Problem, das einige findige Jungs dadurch lösten, den Müll einfach irgendwo reinzustopfen. Bis "irgendwo" voll war. Kein Problem. Kann man ja anzünden, den Müll. Abgebrannter Müll nimmt weniger Platz weg. Weiß man ja. Gesagt, getan.

Offiziell wurden 5 Jungs von der freiwilligen Feuerwehr beauftragt hier fachmännisch Feuer zu legen. Müll brannte aber erstaunlich lange! Das lag einfach daran, dass "irgendwo" ein verlassener Minenschacht war, mit ausreichend Restkohle um das Feuer aufzunehmen und an tieferliegende Kohleschichten weiterzugeben. Sehr viel tieferliegende Kohleschichten, an die man nicht mehr so einfach drankam. Also tat man das Naheliegende: Vertuschen.

Verantwortlich gemacht wurde das ungewöhnlich heiße Wetter und eine unbekannte Ursache (Feuer war am 27. Mai entzündet wurden, Alarm + Vertuschung kam am 6. August 1962. Die erste Rettungsaktion startet am 22. August und endete am 29. Oktober aufgrund von Geldmangel. Es waren immerhin schon mehr als 20.000 $ verbraucht worden. Ein zweiter Rettungsversuch [Flutet diese blöde Mine doch einfach!] scheiterte am Winterwetter und dem neuen Kostenvoranschlag: 40.000 $! Alles im Jahr 1962.)

Die Stadtbewohner lebten dessen ungeachtet fröhlich weiter - bis 1981 ein zwölfjähriger Junge beim Spielen im Hinterhof fast in eine plötzlich aufgerissene Schlucht mit direktem Zugang zu dem seit fast 20 Jahren brodelndem Höllenfeuer stürzte. Sein 14-jähriger Cousin konnte ihn retten und kurz darauf wurden fast alle Einwohner evakuiert. Wegen Lebensgefahr und so. Obwohl die Gegend sonst wirklich nett ist!
"This was a world where no human could live, hotter than the planet Mercury, its atmosphere as poisonous as Saturn's. At the heart of the fire, temperatures easily exceeded 1,000 degrees. Lethal clouds of carbon monoxide and other gases swirled through the rock chambers."
Das werden die nie wieder löschen können. Die beste Hoffnung ist immer noch die, dass in ein paar hundert Jahren die Kohlevorräte an dieser Stelle erschöpft sind.




Was mich an dieser Geschichte so fasziniert ist, dass den Leuten doch absolut klar gewesen sein muss, dass unter ihnen j-a-h-r-e-l-a-n-g ein Feuer vor sich hinbrodelte. Dass das einfach nicht gesund sein kann. Dass das irgendwann furchtbar schiefgehen wird … Nope. Die haben das einfach prima ignoriert. Ist doch noch immer gutgegangen. Was mich in gewisser Weise auch fasziniert, ist diese absolut-sau-dämlich-hirnverbrannte-darwin-award-würdige-Schnapsidee Müll in einer verlassenen Kohlenmine anzuzünden…

Aber die Menschen sind weltweit nicht arm an solchen Ideen, wie jeder weiß, der manchmal Zeit auf Youtube Zeit verplempert. Interessanterweise sind die Klickzahlen bei solchen Youtube-Videos auch immer erstaunlich hoch! Reaktor-Unfälle, Geisterstädte, Flugzeug-Katastrophen. you name it. Die Leute haben irgendwie ein ungesundes Interesse an ungesundem Zeug.

Wisst ihr, was noch gut geht? Serienmörder.

Derf Backderf
Mein Freund Dahmer


MetroLit
224 Seiten | Paperback | 17 x 22 cm
ISBN 9783849300487
22,99 EUR
Der Comic "Mein Freund Dahmer" von Derf Backderf schildert autobiographisch die gemeinsame Schulzeit des Autors mit dem späteren Serienmörder Jeffrey Dahmer. Zu dem Zeitpunkt war das noch kein Serienmörder und er hätte auch keiner werden müssen. Davon ist der Autor überzeugt. Es wird eine gewisse "Anti-Huck-Finn" Szenerie geschildert, in der ein Kind Zugang zu ungestörtem Rumtollen in Wald&Wiesen hat, freie Entfaltung und wirklich niemanden, der sich verantwortlich fühlt.

Hier wird ein langsames Hinabgleiten in die Hölle geschildert und es hätte immer wieder am Rand Stationen gegeben, an denen eine Umkehr möglich gewesen wäre. Immer wieder fragt der Autor eindringlich nach den Erwachsenen. Warum ihnen nicht auffiel, wie etwas bösartig mit diesem Kind, diesem Jugendlichen schieflief. Ja, es hätte Aufwand bedeutet, etwas hätte auch finanzielle Kosten verursacht, aber es wäre möglich gewesen diese Entwicklung zu stoppen. Rechtzeitig.

Der Vorteil, diese Geschichte als Comic zu erzählen, liegt IMHO darin, die Situation der Gleichalterigen zu spiegeln, die allesamt auch versagt hatten. (Hier ist der Autor sehr ehrlich.) Aber sicher damals nicht, und vielleicht auch jetzt nicht, greifen konnten, was da eigentlich passierte. (Hier ist der Ausdruck über das Medium Bild einfach besser geeignet als das Medium Text. Für diesen Autor.) Was aber dieses Buch meilenweit über die entsprechenden Wikipedia-Artikel und Youtube-Videos erhebt ist dieses Gefühl "too close to home". Sowas kann passieren. Langsam, tut nicht sofort weh, aber am Ende ist es Hölle.

Über doofe Feuerwehrmänner, die in einer Kohlenmine Abfall verbrennen, kann man sich erhaben fühlen.
Über die Jugendlichen in Beckderfs Erinnerungen nicht.

Würde ich dieses Buch weiterverschenken? Nein.
Würde ich dieses Buch diskutieren? Sicher, ich diskutiere im Freundeskreis ja auch über Fukushima.
Würde ich dieses Buch später mal meinen Kindern [so sie über 16 J. sind] geben? Nein. Über das Thema reden ja, aber weitere Informationen müssen sie sich selber suchen.
Bereue ich dieses Buch gekauft zu haben (das war kein Rezensions-Exemplar)? Nein! Es ist eine dunkle Lektüre, aber interessant.

Danach war ich aber durchaus dankbar hier & heute & in Berlin zu leben!

JULES