Die Crux mit der Erforschung von Comics besteht ja darin, dass man sich zwischen den beiden radikalsten Polen aufreiben kann. Auf der einen Seite der hämische Chor, derer die dem Bildnarrativ noch immer jeglichen ästhetischen Mehrwert absprechen. Auf der anderen Seite die Comicfundamentalisten, die scheinbar eine sehr ausgereifte Geheimwissenschaft betreiben, immer streng gegen den formalen Kanon.
Dass sich in diesem scharf abgesteckten Felde Sachbücher erwartungsgemäß etwas schwer tun, ist somit wenig überraschend. Populärwissenschaft keifen die einen, Kniefall vor der bürgerlichen Ästhetik werfen die anderen ein.
Wie also soll man diese beiden Pole binden & versöhnen, wenn nicht mit einem Ansatz der beide zufriedenstellt. Dem amerikanischen Journalisten Douglas Wolk gelingt dieses Husarenstück mit Bravour, auch wenn manche Kinderkrankheiten hier durchscheinen, aber ein symphatisches Büchlein ist "Reading Comics" allemal.
Wolk, hauptberuflich Musikjournalist, gilt aber bereits seit Jahren in seiner Zweitdisziplin Comicrezension als scharfzüngiger, prononcierter Schreiberling und Fanboy mit immenser fachlicher Expertise. Ein Hybrid, der die populärkulturellen Abneigungen anderer Gelehrter weder teilt noch untermauert, der aber auch weit über den kryptonitgrünen Rand des Superheldensuppenteller hinaus schaut.
Sein Buch ist sehr klassisch gegliedert, etwa 1/3 der 370 Seiten werden einer Einleitung gewidmet, in der die Entstehungsgeschichte des, so gerne vereinfacht dargestellten, amerikanischen Zweisektormarktes (Mainstream/Independent) intelligent nachgezeichnet wird.
Wolk spricht in seiner Arbeit stets nur von Comics, Zeitungsstrips oder Cartoons fallen aus seiner Definition heraus. Auch wenn er sich der gängigen McScoud'schen Deutung der Sequenzialität anschliesst, grenzt sich seine Erweiterung, dass es sich um eine speziell in Buch- oder Heftform veröffentlichte Geschichte handeln sollte, von der breiteren Definition ab und diese Einschränkung kann, (so finde ich) auch ohne größeres Murren akzeptiert werden.
Sehr auffällig jedoch ist die Auswahl der Titel und Autoren, im vorliegenden Falle bedeutet dies , es sind überproportional viele us-amerikanische Produktionen vertreten, nur wenige, skizzierte Exkursionen zu den, ins englische übertragenen "L'Association"-Titel werden getätigt, ansonsten herrscht hier die angelsächsische Schule. Somit ist dieses Buch für Freunde der Ligne Claire oder der Bande Dessinées im speziellen & besonderen nicht zu empfehlen, allen anderen sei es aber wärmstens ans Herz gelegt.
Grund hierfür ist der schiere Enthuiasmus , mit welchem Wolk versucht die beiden Panzer der konventionellen Deutungen zu öffnen. Er argumentiert kulturwissenschaftlich und ästhetisch , ohne dabei in den allbekannten, etwas verschnöselten Duktus der Comicwissenschaften zu verfallen und fordert - mit sprödem Witz - die Fanboys und Subkulturfundis auf, ihre Vorbehalte gegen eine wissenschaftlichere Auseinandersetzung mit einem Medium, welches die Alltagskulturen der westlichen Welt seit etwas mehr als 100 Jahren begleitet, endlich fallen zu lassen.
Wolks angenehmer Schreibe ist es auch zu verdanken, dass man dieses Buch einfach weglesen kann, keine augenunfreundliche Fussnotenbleiwüste und kein schwülstiger Fangesang blähen sich dem Leser hier entgegen. Stattdessen eine leichte, raffinierte Feder, die sich darauf versteht komplexe Phänomene auch mit einfacheren Worten zu beschreiben, ohne einen unbedarften Comicleser zu überfordern oder gar abzuschrecken.
Mein besonderes Lob gilt dem grundlegenden Ton des Buches, auf den ersten Seiten erklärt Wolk biographisch, weshalb sein Interesse an Comics noch immer so groß ist. Aber wer nun glaubt, hier sei jemand auf der Suche nach der verlorenen Zeit, muss seine Madeleine leider wieder wegstecken, Wolk jagt weder seiner Jugend, noch dem Golden Age nach.
Er ist vielmehr ein sehr im Heute verankerter Autor, der sein beachtliches fachliches Wissen beiläufig in den Text einhegt, dem seelennahen Enthusiasten auf die Schulter klopft, dem verkopften Analytiker ein wenig Leichtigkeit vermittelt und den Neuling neugierig macht auf eine Stadtrundfahrt im Lande der Tuschezeichungen.
Der zweite Teil widmet sich in ansprechender Form der Vorstellung, Positionierung, Analyse und Kommentierung von einigen der us-amerikanischen Comicgiganten. Selbstverständlich finden sich hier neben erwartbaren Namen wie Ware, Eisner, Miller, Bechdel und Moore, auch David B. (als einsamer Europäer) oder die Hernandez-Brüder, Dave "Aardvark" Sim und Grant Morrison.
Insbesondere die Analyse von "The Invisibles" hat mich sehr angesprochen, weil ich a) diese Reihe bislang zwar kannte, aber noch nicht gelesen hatte und b) mich begeistert hat, wie souverän Wolk hier die Dekomstruktion des Superheldengenres abbildet, ganz ohne auf den eher typischen Watchmenverweis zu setzen.
In den 18 ausführlichen Portraits illustriert Wolk die zuvor im theoretischen Teil ausgeführten Gedanken sorgsam und unterhaltsam. Aber auch er gerät, wie so viele vor ihm in die thematische Falle des Comics.
Die Analyse, der mitunter dezidiert gegenkulturellen, antiästhetischen Äusserungen mit den Werkzeugen der Ästhetik des 19. Jahrhunderts mag spannend sein, versandet aber auch ebenso oft in den Verlautbarungen, dass dieses aktuelle und noch immer expandierende Medium nicht zufriedenstellend mit diesen theoretischen Perspektiven gefasst werden kann.
Was man Wolk aber sehr zu seinen Gunsten auslegen muss ist folgendes: Er betreibt keine pathologische Ehrenrettung von qualitativ modderigen Serien als verkannte Perlen einer diffusen Gegenästhetik, sondern kennzeichnet diese als dass, was sie sind.
Im Resümee kann ich sagen: Lebhafte Sekundärliteratur mit einigen Mängeln, wie der fast komplette Verzicht auf europäische Beispiele oder etwaige Unschärfen in der Herleitung von Ideen und die gelegentliche Redundanzen in den Erklärungen, die aber einem weniger comicaffinen Publikum sicher sehr entgegenkommen.
Sehr gut geeignet für Einsteiger, die sich mit dem us-amerikanischen Markt und dessen Diskussionen um Mainstream und Gegenkultur, dem Graphic Novel-Begriff und einigen sehr gut ausgewählten Zeichnern, vertraut machen wollen und auch für alte Hasen ein gut aufbereiteter Fundus von Analysen und Wertungen, welche die ausgetretenen (und allzu bekannten) Pfade verlassen und daher anregend bleiben.
Dieses schöne Stück Sekundärliteratur kann in der Grober Unfug-Filiale in Mitte für 16,95 erstanden werden. Auf gehts, bildet euch.