Dienstag, 3. Juli 2012

Israel im Comic (1v3) - Sarah Glidden


Drei Erzählungen, drei Autorenmotivationen, drei völlig unterschiedliche Perspektiven - ausgebreitet auf insgesamt knapp 640 Seiten. Ich will euch drei Titel vorstellen, die den hochkomplexen Gegenstand der israelischen Gegenwart in den Mittelpunkt stellen. Es handelt sich hierbei um die folgenden Comics:
  
Sarah Glidden: Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger 
Guy Delisle: Aufzeichnungen aus Jerusalem 
Maximilian Le Roy: Die Mauer  

Israel im Comic (1v3) 
Der erste Comic, den ich bei diesem Triple untersuchen möchte, trägt den etwas arg auf Trigger gebürsteten Titel "Israel verstehen. In 60 Tagen oder weniger". 
Trigger? Ja, denn es stellt sich die Frage - kann die Geschichte eines jeden beliebigen Landes tatsächlich in 60 Tagen - also in einer knappen Sommerferienlänge - verstanden werden? 
Mit der Autorin Sarah Glidden reist eine junge, studierte, sich politisch eher als links stehend wahrnehmende Frau nach Israel. Was sie zu dieser Reise motiviert ist schnell erzählt. Ihr Freund hat arabische Wurzeln und nimmt in den Debatten um die umstrittene israelische Politik häufig eine konträre Position zu ihren Ansichten ein. 
Sie selbst ist eine nichtpraktizierende, säkulare Jüdin, die sich durch die Lektüre zahlreicher Autoren, welche die Siedlungs- und Besatzungspolitik scharf angreifen, ein ausführliches theoretisches (und nach ihrer Auffassung kritisches) Bild zu Israel gemacht hat. Sie möchte aber diesem Bücherwissen eine lebensweltliche Dimension hinzufügen. 
Hier bietet sich der Service des "Birthrights Movement" an. Hinter diesem (politisch etwas aufgeladenen) Begriff versteht man ein kostenloses Reiseprogramm nach Israel, welches durch die israelische Regierung und solvente us-amerikanische Sponsoren finanziert wird. 
Hierbei werden junge Menschen eingeladen, das Land, welches sich als Heimstatt aller Juden versteht, zu bereisen. Es gilt auch als eine Reaktion auf die Shoah und begreift sich selbst als Zeichen eines unabhängigen, stolzen jüdischen Gemeinwesens. Klingt eigentlich hinreissend. Reisen, Tradition selbst erleben - Geschichte verstehen ...
... doch ganz so bonbonfarbenenbunt und simpel ist die Welt, eben selbst in diesem Comic nicht. Geschichtsschreibung bedeutet immer auch eine Verortung des Schreibenden, ist gebunden an einen Standpukt, wurzelt in der strategischen Überlegung, welche Art des historischen Narrativs traditiert werden soll. 
Und so ist auch diese Busreise durch das "heilige Land" nicht frei von Ausschliessungen. Glidden hält (fast beiläufig) fest, dass sie während ihrer gesamten Busreise durch Israel niemals auf Palästinenser oder arabische (oder schwarze) Israelis traf - der Vorwurf einer kritiklosen Schaukastentour liegt in der Luft. 
Man reist zu Marksteinen des neuen israelischen Staatsverständnisses, zu Orten der mythischen Verklärung, aber niemals in die besetzten Gebiete - diese bleiben, sich dem Blick der Autorin entziehend, hinter der monumentalen Mauer verborgen, welche die beiden Völker dieses Landes voneinander abschottet. 
Kritische Fragen werden von den Reiseleitern selten beantwortet, die Kontakte mit den Einheimischen beschränken sich auf ein Minimum. Der Aufenthalt besitzt etwas entrücktes, nahezu absurdes. Man besucht die Kulisse eines Landes und jeder Einwohner scheint seine Rolle beherzt (überzu)erfüllen. 
Gliddens Reise ist die Reise durch ein segmentiertes Land, entlang einer betonierten Linie, die man nicht überschreitet - zumindest nicht bei dieser Busreise. Ihr Blick endet (erzwungenerweise) dort, wo der tatsächliche Verstehensprozess beginnen würde. 
Die Rundreise, welche sie unternimmt, zeigt nur eine Seite des israelisch-palästinensischen Konfliktes und ist somit fraglos minderkomplex, hinzu kommt dass die Reisedauer von 60 Tage ein sehr beengtes Zeitfenster darstellt, welches einer vollständigeren Analyse ebenfalls nicht dienlich ist.
Glidden hat trotz dieser Einschränkungen einen hervorragenden, detailreichen und glaubwürdigen Comic über ihre Reiseerfahrungen verfasst, in dem sie sich als hellwache Chronistin des (reduzierten) israelischen Alltags erweist. 
Denn trotz aller Virtualität dieser Reise durch ein Landes, dass seine Mitbevölkerung ausblendet, gelingt es ihr - gerade in der Abwesenheit der Anderen - die Verwerfungslinien dieses Landes sichtbar zu machen. Somit gelingt es ihr auch die Abwesenden aufzufinden. 
Sie löst sich auch, in den niemals anmaßenden oder gar belehrenden Schilderungen ihrer Erlebnisse, von ihren bisherigen theorielastigen Überzeugungen. Und zeigt auf, dass ein reines Buchwissen, niemals ausreichen kann um komplexe, lebendige Geschichten zu verstehen. Diese können nur erzählt werden, wieder und wieder.
Und eben dieser facettenreiche Reifeprozess wird durch ihre offenherzig ausgestellte Unsicherheit zu etwas besonderem. Meine einzige Kritik an dem Comic ist, dass der Titel verheerend irreführend ist - ein einziges Satzzeichen - ein Fragezeichen am Ende des Titels - hätte eine anderen Erwartungshaltung evoziert und hätte so auf eine (notwendige) kritischere Distanz zum Gegenstand hingewiesen. 
Der zweite Teil des Triples folgt demnächst.